Ich hatte mir da am Meer teilweise die Frage gestellt, wieso mich das Wasser so sehr “erdet” und irgendwie habe ich darauf keine Antwort gefunden. Vielleicht ist es das stete im permanenten Veränderungsprozess, das Meer, das immer wieder an die Küste, an den Strand, an die Mole, an die Seebrücke schlägt. Möwen, Krähen, in Schwärmen im Sand, nein, diesmal eigentlich mitten im Schnee. Was auch immer man dann denkt: alles bleibt, nichts ist veränderbar, nichts bleibt bestehen, nichts geht durch die verschiedenen Phasen, durch die Menschen nach einer Trennung gehen, nach einem Tod, nach einem Abschied. Das Tippen meiner Fingerkuppen auf der Tastatur, auf dem Display. Wir sind die Veränderung selbst. Nur bleiben wir oft so stet am Verändern, dass es gar nicht mehr auffällt, wenn wir es nicht tun.
An manchen Tagen fühle ich mich dann auch noch nicht einmal wie ich selbst. Anfang der Woche die Frage: “aber ist es nicht ziemlich schwer, wenn du aus einem gewohnten Umfeld, aus einer Umgebung, in der du dich wohlfühlst, herausgerissen wirst?” Man muss sich doch selbst organisieren können. An einem Tag ohne einen festen, von außen auferlegten Zeitplan, etwa durch Arbeit, Uni, muss man sich ebenso selbst organisieren können. Logisch, dass, wenn man das nicht kann, man über kurz oder lang wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Fixpunkte, sonst funktioniert auch der Alltag mit Steuerung nicht. “Ggf. reserviert” - nicht nur gegebenenfalls. Das ist das, was die meisten vergessen.
Die Seeluft, der Wind, die steife Brise hat an meinen Wangen gekratzt und an den Lippen. Man muss sich nicht mehr mit einer Maske beschäftigen, man wird rundgeschliffen. Das Atmen fällt etwas leichter, am Wasser wird alles immer so relativ, ich niese nur in meinen Hemdärmel, am Oberarm, ich bilde mir ein, dass die Bazillen dann nicht ganz so weit streuen. Und man könnte die Hand geben, nur gibt es hier niemanden, dem man die Hand geben will. In der Lobby überall Spiegel, sie sollen nach Barock aussehen, ich denke an die heftig überladenen Kirchen in der Münchner Innenstadt. Der Versuch, sich an den ersten Nervenzusammenbruch zu erinnern, das war Spätsommer, ich war vierzehn, die Luft in München stickig und viel zu heiß für meinen Kreislauf. Verlaufen hatten wir uns, am Ende saß ich zitternd in einer Kirche, einer schlichten, draußen fast vierzig Grad, ich konnte mich vor Schüttelfrost nicht mehr bewegen. Sie hatten es alle mitbekommen obwohl ich es nicht wollte, dann die beruhigende Stimme der Tante, mit der ich nicht verwandt war. “Atme einmal tief durch. Tief ein, tief aus. Du wirst sehen, dir wird es gleich besser gehen.” Ich hatte Angst, dass sie Unrecht behalten würde, aber sie lag richtig. Die innere Panik ging vorbei, das Zittern verschwand, mein Schamgefühl schweißte uns sogar noch enger aneinander. Meine Tante hatte mir eine Schreibmaschine geschenkt, eine, auf der ich schon die ganze Zeit, die ich bei ihr war, geschrieben hatte. Der Geruch der Farbbands, wenn man den Deckel aufmacht, ist bis heute ein erhebendes Gefühl. An Courier ist als Schriftart nicht zu viel auszusetzen, vielleicht nur ein “es riecht nicht wie meine Schreibmaschine”.
Im Zug reden sie von den Fehlern ihrer Partner, sie reden davon, dass man in seinem Leben in verschiedene Abgründe schaut, meist in den eigenen, und wenn man einen Abgrund gefunden hat, der kompatibel mit dem eigenen ist, also nicht so schlimm wie der persönliche Mariannengraben, solle man zugreifen, nicht mehr loslassen, nie wieder loslassen. Sie sagen das mit einer Überzeugung, die ich erst noch lernen muss. Da waren Fußspuren im Schnee auf dem Sand, daneben Spuren vom Hund, ein bisschen Gischt, die die Muscheln hat mit Kieselsteinen zusammenfrieren lassen. Auf meinem Balkon, dem zur See heraus, Schneeflocken. Ich stehe draußen, im Handtuch, bis ich meine Hände nicht mehr spüren kann. Es ist gut. Das Meer ist da und geht nicht mehr weg. So wie ich.
(Daughter - Home)
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hej. alles, was du sagst, ist wichtig.
ich danke dir.